In letzter Zeit mehren sich Stimmen, die uns auf einen Kostenfaktor reduzieren möchten.

Interview von Andi Wahl //
Vor allem in Zeiten reduzierter Budgets wird auch viel über Behindertenpolitik gesprochen. Was ist unbedingt erforderlich und was wäre nur „nice to have“? Radio FRO hat an kompetenter Stelle nachgefragt. Wir haben
Alfred Prantl, Obmann der „Vereinigung der Interessenvertretungen der Menschen mit Beeinträchtigungen in Oberösterreich“ (IVMB) und Renate Hackl, jene Frau, die beim Land Oberösterreich darüber entscheidet was mit den vorhandenen Mitteln umgesetzt wird, zu einem Streitgespräch gebeten. Streitgespräch ist es allerdings keines geworden, zu einig sind sie sich die Beiden in der grundsätzlichen Orientierung.

FRO: Frau Hackl, wie würden Sie die Lage von Menschen mit Beeinträchtigungen in Oberösterreich beschreiben?

Hackl: Für Personen, die eine Leistung brauchen, diese aber nicht bekommen, weil die Ressourcen fehlen, ist es problematisch. Wir haben in Oberösterreich aber ein sehr vielfältiges Angebot, das zugleich sehr regional ist. Oberösterreich hat aber historisch bedingt sehr große Einrichtungen. Das ist unser Rucksack. Es entspricht einfach nicht der Normalität wenn Personen irgendwo separiert werden und der Rest des Landes bekommt sie nur einmal im Jahr beim Weihnachtsmarkt mit. Was in Oberösterreich sehr gut gelungen ist, ist die Einbindung der Betroffenen mittels ihrer Interessenvertretungen. Dafür haben wir auch Strukturen geschaffen. Das heißt nicht, dass sie in jedem Fall mitbestimmen können. Aber sie haben die Möglichkeit, in Gremien gehört zu werden und ihre Anliegen vorzubringen. Ich könnte jetzt aber keine Note für die Behindertenpolitik des Landes vergeben.

 

FRO: Herr Prantl, wenn sie dem Land Oberösterreich ein Zeugnis ausstellen müssten, wie würde das aussehen?

Prantl: Oberösterreich hat ein sehr breites und differenziertes Angebot. Die Einbindung der Betroffenen ist, wie Frau Hackl sagt, bisher sehr gut gelungen. Dies geschieht sehr wesentlich durch die Interessenvertretungen. Diese halten auch guten Kontakt zu Politik und Verwaltung. Auf Grund der angespannten Finanzsituation ist aber derzeit kein großer Wurf möglich.

FRO:
Sind Interessenvertretungen in den oberösterreichischen Einrichtungen vorgeschrieben?
Hackl: Vorgeschrieben nicht. Aber die Einrichtungen müssen die Menschen mit Beeinträchtigungen dabei unterstützen, eine Interessenvertretung zu gründen. In Oberösterreich haben wir derzeit etwa 800 Interessenvertretungen in Institutionen.

Prantl: Es soll in jeder Einrichtung eine Interessenvertretung geben. Wir vom Dachverband achten darauf, dass sich solche bilden können und unterstützen sie auch in ihrer Arbeit. Für viele Menschen mit Beeinträchtigung ist es oft schon ein schwieriger Schritt heraus zu finden, was sie für sich selbst wollen, sich ihrer Interessen bewusst zu werden. Noch schwieriger ist es, die Interessen anderer zu vertreten. Da braucht es Qualifizierungsmaßnahmen die auch vom Land Oberösterreich finanziert werden.

FRO: Vor einiger Zeit hat es erhebliche Aufregungen um Verschlechterungen in der Bauordnung gegeben. Viele Vorschriften, die in Richtung Barrierefreiheit gingen, sind zurück genommen worden.

Prantl: Uns ist es zwar gelungen, einige Spitzen zu nehmen, aber diese Änderungen sind eine klare Verschlechterung. Dabei ist Barrierefreiheit nicht nur für Menschen mit Beeinträchtigungen wichtig. Bauliche Barrierefreiheit ist eine Vorbedingung, um Menschen in die Gesellschaft zu inkludieren. Menschen mit Beeinträchtigung müssen immer noch um ihren Platz in der der Gesellschaft kämpfen. Gerade in letzter Zeit mehren sich Stimmen, die uns auf einen Kostenfaktor reduzieren möchten.

FRO:
Man hört aber auch immer lauter Forderungen nach Inklusion oder Teilhabe. Gibt es in der Behindertenpolitik so etwas wie ideologische Moden?

Hackl: So würde ich das nicht bezeichnen. Es gibt eine Geschichte der Behindertenpolitik. Dabei muss uns immer klar sein: Die Politik bestimmt die Lebensentwürfe der Menschen mit Beeinträchtigung. Sie bestimmt, was ein Mensch mit Beeinträchtigung in seinem Leben machen kann und was ihm verwehrt bleibt.

In den 1960er gab es die ersten Behindertengesetze. Da galt der Grundsatz „Warm-Satt-Sauber“. Darauf folgte eine Phase, in der man meinte, alle müssten die selben Förderprogramme durchlaufen. Das wurde abgelöst durch die Zeit der Integration, welche vor allem in Schulen und Kindergärten forciert wurde. Diese Bemühungen wurden dann aber nicht im Wohn- und im Arbeitsbereich fortgesetzt. Die Integration endete oft mit dem Schulaustritt. Jetzt befinden wir uns in der Phase der Inklusion, die vor allem durch die UN-Behindertenkonvention eingefordert wird. Das Ziel ist nun, dass Menschen mit Beeinträchtigung nicht in irgend einer Spezialeinrichtung leben müssen, sondern ganz normal Teil der Gesellschaft sind und unter allen anderen leben. Damit müssten sich die klassischen Einrichtungen auflösen. Wenn ich Oberösterreich hier bewerten müsste, muss ich sagen, wir haben ein wenig Inklusion, ein wenig Integration und noch immer auch ein wenig …


FRO:
Exklusion?

Hackl: Ja. Und das ist die Herausforderung. Wir haben junge Menschen, die sich ein Leben in einer Einrichtung gar nicht vorstellen können, wir haben aber auch die „alten Eltern“, die ihr Kind umfassend versorgt wissen möchten.

FRO:
Werden in Zukunft Menschen mit Beeinträchtigung gezwungen sein, inkludiert zu leben?

Prantl: Nein! Aber es wollen immer mehr als normale Mitglieder in der Gesellschaft leben. Zwingen kann man niemanden und sollte man auch nicht. Aber hätte es 1978 die Angebote gegeben, die es heute gibt, wäre ich nach der Schule nicht nach Altenhof gekommen.

FRO:
Das Land Oberösterreich führt diese ganzen Unterstützungsmaßnahmen ja nicht selbst durch, sondern beauftragt Vereine oder Betriebe damit. Es gibt also viele Anbieter und das Land als einzigen Abnehmer. Sie sind Monopolist in umgekehrter Form, ein Abnahmemonopolist. Sind Sie verpflichtet, die Bestbieter zu beauftragen?

Hackl: Nein! Wir machen auch keine Ausschreibungen, sondern greifen auf bewährte Träger zurück. Aber wir haben auch neue Träger zugelassen, vor allem dort, wo es sehr große beherrschende Anbieter gab. Das ist auch eine Grundsatzentscheidung: Überlässt man alles dem Freien Markt oder betrachtet man es als staatliche Aufgabe, notwendige Unterstützungen sicher zu stellen. Auch da gab es in der Vergangenheit unterschiedliche Varianten. So gab es Zeiten, in der die Politik sehr eng mit den verschiedenen Wohlfahrtsträgern verbunden war. Da gab es so gut wie keine Steuerung, keine Kontrolle und auch keine Planung. Man muss sich das so vorstellen, dass Wohlfahrtsträger und PolitikerInnen sich direkt verständigten, welche Maßnahmen umgesetzt werden. Das Problem daran war, dass die Fachexpertise alleine bei den Wohlfahrtsträgern lag.

Dann hat man begonnen Planung und Kontrolle einzuführen und es wurden Leistungsverträge mit den Einrichtungen abgeschlossen. Gleichzeitig hat die Landesverwaltung auch eigene Fachexpertise aufgebaut und die Beziehung zwischen Land und Träger wurde neu gestaltet. Durchaus unter heftige Kritik, dass nun alles so „verwirtschaftlicht“ würde. In einem weiteren Schritt wurden dann die Dritten in Boot geholt, nämlich die, um die es eigentlich geht, die Betroffenen selbst. Dazu braucht es die Interessenvertretungen. Zur Zeit sind wir in einer Entwicklungsphase, in der die Betroffenen immer stärker selbst aussuchen möchten, welche Hilfen sie beanspruchen. Eine Möglichkeit dazu ist das „persönliche Budget“. Der Staat stellt nicht mehr Sachleistungen zur Verfügung sondern Geld, mit dem sich die Anspruchsberechtigten Hilfestellungen am Markt kaufen können. Wie dieser Markt geregelt sein wird, ist noch offen. Es wird spannend sein, in welche Richtung wir uns hier bewegen.

FRO: Wir haben also drei ExpertInnengruppen …

Hackl: Eigentlich vier.


FRO:
… die Fachabteilung am Land, die Betroffenen, die Einrichtungen …


Hackl:
… und die Angehörigen. Die wurden in der Vergangenheit immer gemeinsam mit den Betroffenen gesehen. Das ist aber falsch. Sie haben eigene Interessen, und was die Angehörigen wollen, muss nicht das sein, was Betroffenen wollen. Das wurde immer als eine Einheit gesehen, ist es aber nicht


Prantl:
Ist es nie gewesen! Wäre es nach meinen Eltern gegangen, würde ich heute noch in einer Art Kindstatus Zuhause wohnen. Mit den besten Absichten – weil sie sich das nicht anders vorstellen konnten und mich beschützen wollten.

Wir haben im Dachverband der Interessenvertretungen nun auch eine eigene Angehörigengruppe. Hier konnten wir auch sichtbar machen, dass die Interessen der Angehörigen nicht mit denen der Angehörigen zusammen fallen – wenn es auch Überlappungen gibt.

FRO: Aber wo ist das Innovationszentrum? Wo entstehen diese Konzepte, wer erfindet Persönliche Assistenz, Frühe Hilfen, STEEP (Steps Toward Effective, enjoyable Parenting)?

Hackl (lacht): Oh, ein Insider! Die Persönliche Assistenz kam von den Betroffenen, von der SLI (Selbstbestimmt Leben Initiative, Anm. Red.). Innovation kommt aber auch von Trägern, obwohl da derzeit wenig kommt, das muss ich auch offen sagen. STEEP allerdings war eine sehr kluge Idee eines Trägers. Innovation kommt aber auch sehr stark von uns, vom Land Oberösterreich. Etwa der Aufbau von Kompetenz im Feld der Leichten Sprache, oder der Ausbau integrativer Beschäftigungsplätze.


Prantl:
Da die Betroffenen immer mehr als gleichwertige Partner wahrgenommen werden, können wir uns immer stärker in die Entwicklung von Maßnahmen und Hilfestellungen einbringen. Natürlich ist es noch ein weiter Weg und es bedarf noch vieler Auseinandersetzungen. Aber das Klima und die Form der Auseinandersetzung erlebe ich großteils positiv.

FRO:
Gibt es eigentlich einen Preiskampf zwischen den Trägern?


Hackl:
Nein! Den kann es auch gar nicht geben, weil alle die Leistungen nach den selben Standards erbringen müssen und dafür das gleiche Geld bekommen. Wir fordern ein gewisses Qualifikationsniveau, dass die MitarbeiterInnen ein gewisses Entgelt, wie im Kollektivvertrag festgelegt, bekommen usw. Dumping kann es hier nicht geben, weil wir ein Regelwerk geschaffen haben, das sehr transparent ist.

FRO:
Herr Prantl, wie sind Ihre Wünsche für die Zukunft? Sagen wir einmal die nächsten fünf Jahre.


Prantl:
Ich wünsche mir, dass es vermehrt Angebote gibt für Menschen mit Beeinträchtigungen, dass der vorhandene Bedarf ordentlich abgedeckt wird. Auch, dass das persönliche Budget eine größere Rolle spielt damit die Menschen selbst entscheiden können wo und wie sie leben. Denn jetzt muss man sich immer auf die Suche nach Plätzen und Ressourcen begeben, und sieht sich dann in der Situation, das bessere der schlechten Angebote zu nehmen. Außerdem sollten man in allen Bundesländern die selben Rechtsansprüche haben. Es sollte egal sein, wo man geboren ist.


Hackl:
Das wünsche ich mir auch alles! Und zusätzlich, dass man die Qualität in Richtung Behindertenkonvention verbessert. Vor allem was die Autonomie von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen betrifft. Hier müssen wir intelligente Hilfestellungen entwickeln. Und – auch das braucht es immer noch – die Betroffenen zu qualifizieren, diese Autonomie auch leben zu können. Ein großes Anliegen ist es mir zudem, die Kreativität, die Klugheit und die Talente von Menschen mit Beeinträchtigungen sichtbar zu machen. Das können wir nicht, so lange wir Menschen in großen Einrichtungen verwahren. Manche brauchen den Schutz, aber viele könnten ganz anders Leben.


FRO:
Danke für das Gespräch.

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Alfred Prantl, geb. in Tirol hat dort die Sonderschule besucht. 1978 verfasste er einen Artikel über die Einrichtung, in der er untergebracht war. Als dieser in der Wiener Wochenpresse erschien, wurde der Initiator des Behindertendorfes Assista, Pater Gots auf Prantl aufmerksam und holt ihn nach Oberösterreich. Bis 2006 lebte Prantl in diesem Behindertendorf und baute dort die Interessenvertretung der Behinderten mit auf. Diese Interessenvertretung, damals noch Dorfrat genannt, wurde im Dezember 1978 ins Leben gerufen und war beispielgebend für die Selbstvertretung Behinderter. Seit 2006 lebt Prantl in Linz und ist derzeit Obmann der „Vereinigung der Interessenvertretungen der Menschen mit Beeinträchtigungen in Oberösterreich“ (IVMB).

Renate Hackl, Mühlviertlerin und Soziologin, arbeitet seit 1996 beim Land Oberösterreich. Seit 1999 ist sie Leiterin der Abteilung für Behindertenhilfe, psychiatrische Vor- und Nachsorge sowie Wohnungslosenhilfe.

Andi Wahl ist Geschäftsführer von Radio FRO. Als solcher engagierte er sich für breiten Medienzugang – eh klar!

Zuletzt geändert am 17.10.13, 00:00 Uhr

Verfasst von Silke Müller

Ein Duett aus Radiofeature-Produktion und Illustrationsausstellung hat mein Kommunikationsdesign und Medienstudium abgeschlossen. Seit dem beschäftige ich mich mit der großen, künstlerischen Radioform "Feature", mit Reportagen und Interviews mit KünstlerInnen und Kulturschaffenden.

Ich bin freischaftende Illustratorin für Plakate - zum Beispiel für Radio FRO - Zeitungen, Magazine, Bücher und Ausstellungen. Radiohören geht beim Zeichnen wunderbar.

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