Für die Zukunft unseres kulturellen Erbes

von Joachim Losehand //
Am Anfang war das Feuer. Prometheus stahl es den olympischen Göttern, brachte es den Menschen und lehrte sie, es zu beherrschen und zu verwenden. Jede Generation vermittelte diese und alle anderen neu hinzugekommenen Fertigkeiten der nachfolgenden und gab wortwörtlich die Fackel des praktischen Wissens weiter. Auch die Geschichten der Ursprünge der Menschen wurden von Mund zu Ohr verbreitet, ausgeschmückt und transformiert: Fahrendes Volk unterhielt mykenische Höfe mit den fantastischen Taten von Frauen und Männern, deren Leben, Sterben und bisweilen Apotheose ein warnendes oder aufforderndes Vorbild für die Lebenden war.

Diese flüchtigen Erzählungen wurden erst episodisch im Bildwerk festgehalten und dienten, nachdem sich die Schrift auch für anderes als endlose Listen der Bürokratie tauglich erwiesen hat, den Mächtigen zu ihrer eigenen Darstellung und zur emotionalen Selbstvergewisserung der Gemeinwesen. Des Schreibens Kundige fixierten die bislang nur mündlichen Traditionen und schafften Sinn- und Identitätsangebote. Die Zukunft der Menschen liegt in ihrer Herkunft. Ob national oder geographisch, religiös oder kulturell, die Vermittlung und Aneignung der Erlebnisse, Kenntnisse und des Wissens der Generationen vor uns verstummt, wenn die vermittelnden Menschen am Ende ihre Lebens verstummen und niemand ihr Zeugnis festgehalten hat.


Verfügbarkeit von Wissen als Grundlage für Entwicklung

Wir Menschen sind dazu geboren, bereits Erlebtes wieder neu zu leben, bereits Gedachtes immer wieder neu zu denken und bereits Entdecktes neu zu entdecken. Aber nicht nur der Austausch zwischen der Vergangenheit und ihrer Zukunft, auch das Gespräch in der Gegenwart, die Kommunikation des zeitgenössischen Wissens, verlangt nach Strukturen des Bewahrens und des Zugänglichmachens.
Die Verfügbarkeit und der Austausch von Kenntnissen und Wissen ist die Grundlage für den kulturellen Fortschritt der Menschheit, das Wissen um die Regeln des Zusammenlebens steht für den sozialen Fortschritt der Menschen.


Der Bedarf der Schriftlichkeit

Der öffentliche Aushang und die Gültigkeit von Dekreten und Entscheiden durch ihre Veröffentlichung, wie sie beispielhaft in den Zwölftafelgesetzen der frühen Römischen Republik war, schafft den Bezugspunkt, auf den sich eine Gesellschaft selbst verpflichtet. „Keine Strafe ohne Gesetz“ gehört zu den gemeinsamen Rechtsnormen unserer Tradition und – wenn auch gilt: „Unwissenheit schützt vor Strafe nicht“ – dieses Gesetz muss öffentlich gemacht worden sein, um in Kraft zu sein.

Der öffentliche Zugang zu Wissen und Information ist bereits Grundlage der vormodernen aristokratischen und plutokratischen Gesellschaften, trotzdem die angesprochenen Gruppen die „Freien“ waren, also vor allem die finanziell unabhängigen und mit den allgemeinen Rechten der „Polis“ ausgestatteten Männer. Umso mehr ist in unseren Gesellschaften, in denen alle Menschen gleich an Rechten und Pflichten in Bezug auf das Gemeinwesen sind (oder sein sollen), der Zugang zu Information, Wissen und Bildung die Voraussetzung für ein funktionierendes, stabiles und prosperierendes Staatswesen.

Die spätestens seit dem Hellenismus bestehenden Einrichtungen öffentlicher Staatsarchive und Bibliotheken dürfen nicht darüber
hinwegtäuschen, dass diese Institutionen trotz eines hohen Alphabetisierungsgrads der antiken Menschen keine „Volksbildungswerke“ waren. Gleichwohl allen Bevölkerungsgruppen und -schichten in der Regel öffentlich zugänglich, war ihre Aufgabe vor allem die Sammlung und Bewahrung von Wissen, nicht aber die, die Menschen aktiv mit Wissen zu versorgen. Zielgruppe war vor allem die städtische Elite, die es sich finanziell leisten konnte und wollte, Zeit in die eigene Bildung zu investieren.


Schriften in der Hand einfacher Menschen galten als gefährlich

Bis zum Buchdruck mussten Exemplare zwischen Privaten oder Institutionen getauscht und verliehen werden, um eine Vervielfältigung durch Abschreiben zu ermöglichen. Im hellenistischen Alexandria, das neben dem Leuchtturm von Pharos auch den Leuchtturm der größten Bibliothek seiner Zeit besaß, sollen Angestellte alle in den Hafen einlaufenden Schiffe durchsucht haben. Gefundene Bücher sollen in die Schreibstuben der Bibliothek gebracht worden sein, wo in kurzer Zeit Kopien dieser „ausgeliehenen“ Vorlagen erstellt und damit der Bestand bereichert wurde. In mittelalterlichen Stiftsbibliotheken wurden auf ähnliche Weise die Regale gefüllt, es wurde aber auch ein reger Handel mit wichtiger und nachgefragter theologischer und philosophischer Literatur betrieben. Hatte man in der Antike noch keine Vorbehalte gegen Laien-Bildung, galten im Mittelalter Schriften in den Händen einfacher Menschen außerhalb der kirchlichen Hierarchie als gefährlich und darum verboten. Das Bekehrungserlebnis des antiken Kirchenvaters Augustinus von Hippo war noch ein „Nimm und lies!“, dem mittelalterlichen Menschen war sehr oft Lesen und der Besitz der Heiligen Schriften untersagt.

Erst mit und in Folge der Glaubens-Reformation und der Aufklärungsbewegung wurde aus Kenntnis und Wissen auch Bildung. Immanuel Kant nannte es programmatisch „die Herausführung des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Sprach die Aufklärung anfangs nur die bildungsbürgerlichen Schichten an, brachten ab dem Ende des 18. Jahrhunderts moderne Prometheus‘ die Fackel der Bildung zu immer mehr Menschen. Die durch Landflucht und Elend der neoabsolutistischen Industrialisierungsepoche in Gang gesetzte soziale Revolution forderte und förderte die aktive Zugänglichmachung von Wissen für alle Menschen aller Schichten. Von der Selbstorganisation fast schon „lesewütiger“ Zirkel hin zur Institutionalisierung in Dorf-, Bauern- und städtischen Volksbüchereien war es, menschheitsgeschichtlich gesehen, nur noch ein kleiner Schritt.


Parallel verlaufende Entwicklungen

Die technische und dann die digitale Revolution seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts hat die Bewahrung, die Organisation und den Zugang zu Wissen, Bildung und Kultur auf eine neue, ungeahnte Ebene gehoben.
Zwei Entwicklungen liefen in den Anfängen parallel und vereinigten sich an der Schwelle des 21. Jahrhunderts: Einerseits die so genannte Digitalisierung, die technische Möglichkeit, gegenständliche Medien in Kombinationsketten von „Null“ und „Eins“ zu verwandeln, abzuspeichern und gegen jeden Verfall durch Gebrauch zu schützen. Denn jeder Zugriff auf historische Dokumente, Papyri, Codices und Inkunabeln, Akten, Briefe, Bilder und Filme ist ein aggressiver Angriff. Oftmals musste die Zugänglichkeit hinter der konservatorisch bedeutsameren Bewahrung zurückstehen. Mit der Digitalisierung von Objekten können ihre digitalen Zwillinge prinzipiell unendlich oft angesehen und studiert werden, ohne die Originale dadurch in Mitleidenschaft zu ziehen. Auch die vertiefte Erschließung der Objekte wurde ermöglicht: Ganze Bestände lassen sich frei über die Volltext-suche befragen und können Auskunft geben, wo ihnen früher nur handgefertigte Stichwortkataloge eine Stimme gaben.
Parallel dazu: das Internet. Hatten sich in den Anfängen der modernen Naturwissenschaften Leibniz, Newton und andere noch auf dem Weg der öffentlichen Briefe und der kursierenden Journale ausgetauscht, wurde am CERN (Europäische Organisation für Kernforschung in der Schweiz, Anm. d. Red.) mit dem HTT-Protokoll für eine neue, elektronische Plattform der Kommunikation unter Gleichen („peers“) eine neue Ära eingeleitet.

Gleichberechtigter Zugang zu Information für alle wissenschaftlich Tätigen (zuerst am und um das CERN herum) war die Motivation für dessen Entwicklung; mit dem Öffentlichmachen des Codes wurden Wissensorganisation und -zugang für die gesamte Menschheit neu definiert.

Organisation der Zugänglichmachung

Der überwiegende Teil der Menschen kann heute prinzipiell von jedem Ort der Welt aus das Kommunikationsnetz Internet und die darin zugänglichen Inhalte nutzen. Dieser zentrale und beinahe barrierefreie Zugang zum „gesamten Wissen der Menschheit“ birgt natürlich auch große Gefahren, denn die Speicherung, Organisation und Zugänglichmachung liegt vor allem in den Händen privater Unternehmen und Institutionen, die damit direkt oder indirekt großen Einfluss auf unser Wissen und unser Selbstverständnis als Gesellschaft nehmen können.
Ist die Bewahrung des kulturellen Erbes und des Menschheitswissens sehr früh schon als öffentliche, gemeinnützige Aufgabe erkannt worden, müssen wir heute vor allem das Augenmerk auf deren Organisation und öffentliche Zugänglichmachung legen. Die Verbesserung der rechtlichen Rahmenbedingungen für gemeinnützige Archive, Bibliotheken und Mediatheken ist eine wichtige Anforderung kulturpolitischen Handelns in den nächsten Jahren. Mit der am 6. und 7. September 2014 in Linz stattfindenden 2. ARCHIVIA-Konferenz schafft Radio FRO erneut eine Plattform, um die Zukunft unserer kulturellen Vergangenheit immer gegenwärtig bleiben zu lassen.

// Joachim Losehand ist Kulturhistoriker und organisiert für Radio FRO die ARCHIVIA 2014, die am 6. und 7. September 2014 im Wissensturm in Linz stattfindet.

Zuletzt geändert am 31.08.14, 00:00 Uhr

Verfasst von Silke Müller

Ein Duett aus Radiofeature-Produktion und Illustrationsausstellung hat mein Kommunikationsdesign und Medienstudium abgeschlossen. Seit dem beschäftige ich mich mit der großen, künstlerischen Radioform "Feature", mit Reportagen und Interviews mit KünstlerInnen und Kulturschaffenden.

Ich bin freischaftende Illustratorin für Plakate - zum Beispiel für Radio FRO - Zeitungen, Magazine, Bücher und Ausstellungen. Radiohören geht beim Zeichnen wunderbar.

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