Dann ist Existenz keine Geldfrage mehr
von Günther Breitfuß //
Die Diskussion darüber, wie die Maßnahmen des 2008 vom oberösterreichischen Landtag beschlossenen Chancengleichheitsgesetzes finanziert werden können, ist wichtig. Für manche von uns sogar lebenswichtig!
Dennoch verdeckt sie die viel grundsätzlichere Frage, wie wir mit der gegebenen Unterschiedlichkeit der Menschen umgehen. Günther Breitfuß erinnert in seinem Beitrag daran, dass es nicht nur ums Geld geht, sondern auch um unsere Vorstellung von Normalität.
Ein Bote kam zu uns ins Büro und murmelte mir mit verstörtem Gesicht entgegen: „Es ist furchtbar, so etwas sehen zu müssen. Da ist man froh, gesund zu sein.“ Was hatte er gerade Schreckliches erlebt? Er ist mit dem Lift zu uns in dem 3. Stock gefahren, zufällig zusammen mit einer Kollegin im Rollstuhl, die erheblich spastisch ist und nur schwer verständlich sprechen kann.
Er schien fast geschockt durch die unerwartete Nähe im Lift, der er nicht ausweichen konnte. Seine tiefe Betroffenheit spiegelt wider, wie er sich die Existenz dieser Frau vorstellte und diese Begegnung auffasste.
Die Frau im Rollstuhl, die ihre Glieder kaum gezielt bewegen konnte und die auf unerwartete Geräusche erschrocken reagierte, deren Sprache er nur als unverständliche Laute wahrnahm und deren Mimik er nicht deuten konnte, löste bei ihm eine Welle an verstörenden Gefühlen aus, die ihm schwer zu schaffen machten. In seinem Weltbild begegnete ihm ein Leben mit unvorstellbarem Leid, voller Entbehrungen, in größten Nöten und mit unerträglich beschämendem Unterstützungsbedarf in den intimsten Lebensbereichen. Seine Gedanken schienen wirr durcheinanderzuschwirren und schwere Irritationen zu erzeugen. Mit der spontanen Offenbarung seiner Gefühle drückte er sein Mitleid mit dieser Frau aus, zeigte sich menschlich, berührbar. Da war nichts Gespieltes dabei.
Scham durch Almosen bewältigen
Es ist gut möglich, dass dieser Bote heuer bewusst und überzeugt für Licht ins Dunkel spendet – eine nationale Almosenkampagne, die auf demselben Bild von Menschen mit Beeinträchtigungen aufbaut: jenem vom Schicksal schwer getroffener Menschen, die eine persönliche Tragödie bewältigen müssen, weil man nicht wirklich helfen kann. Sie sind und bleiben Behinderte, die letztlich ihr Los nur alleine tragen können. Die Konfrontationen mit ihnen verunsichern. Man weiß nicht, wie man sich verhalten soll. Ihr Habitus und ihr Gestus sind rätselhaft und irritierend. Man möchte deshalb nichts mit ihnen zu tun haben und schämt sich gleichzeitig dafür. Diese Scham kann durch Almosen bewältigt werden. Viele etablierte „Behinderteneinrichtungen“, Medien und Staat bedienen sich dieses Gewissenskonflikts, der zu wahrer Spendenfreudigkeit führt. „Ist da jemand?“ fragt nicht danach, ob tatsächlich jemand für eine menschliche Begegnung da ist und ob die Ausgrenzung endlich beendet werden kann.
Es interessiert nur, ob da jemand ist, der Geld gibt.
Behinderung ist eine Gegebenheit außerhalb des Körpers
Seit mehr als 20 Jahren stellt eine Behindertenrechtsbewegung (Independent Living Movement bzw. Selbstbestimmt Leben-Bewegung) dieses Verständnis von Behinderung grundsätzlich in Frage. Sie klärt auf, dass die Behinderung niemals einem Menschen innewohnt. Sie ist eine Gegebenheit außerhalb des Körpers. Die Behinderung ist die Hürde, die Barriere, der verwehrte Zugang, der Ausschluss. Sie ist eine geschaffene bauliche Maßnahme oder eine gesellschaftliche Haltung der Ausgrenzung, wie der erschwerte Zugang zum Arbeitsmarkt oder alltäglicher, die Abwendung von Andersartigen. Behinderung ist folglich kein individuelles Problem, sondern eine Diskriminierung. Gegen Behinderung kann man etwas unternehmen. Neben dem Abbau der baulichen Barrieren und den gesellschaftlichen Ausschließungsmechanismen geht es vor allem um Bewusstseinsbildung. Hätte der Bote das Glück gehabt, seine Schulzeit gemeinsam mit beeinträchtigten Kindern zu verbringen, hätte ihn die Begegnung im Lift sicher nicht erschreckt. In seinem Weltbild hätte er etwas völlig Normales getroffen. Vielleicht hätte es ihm sogar Freude bereitet, bei dieser Gelegenheit wieder einmal zu erkennen, wie Vielfalt und Verschiedenheit unsere Gemeinschaft bereichern.
Menschen, die keinen Sonderstatus brauchen
Die Aktion Licht ins Dunkel und der Bote haben das noch nicht verstanden. Behinderung und Beeinträchtigung sind für sie zwei Begriffe für dasselbe. Sie verstehen nicht, wie sehr sie durch ihre wohlgemeinte, aber unreflektierte Haltung Betroffene zu bemitleidenswerten Geschöpfen degradieren und damit dazu beitragen, sie weiter am Leben zu behindern. Die Qualität der Existenz beeinträchtigter Menschen hat sich auf die Geldfrage reduziert. Die Debatte um Inklusion beschäftigt sich kaum noch damit, welche Haltung wir zueinander einnehmen; wie man so vertraut wird, dass man nicht mehr zwei Arten von Menschen erkennt, beeinträchtigte und nicht-beeinträchtigte, sondern nur verschiedene.
Wir diskutieren darüber, wie weit wir uns Inklusion leisten können. Wir fragen nur, was es kostet, und verstehen nicht, dass es vielmehr eine Herzensfrage für uns alle ist. Wenn es gelingt, Menschen mit Beeinträchtigung als gleichwertige Mitmenschen zu verstehen, die keinen Sonderstatus brauchen, die ihr Leben selbst gestalten können und deren Wesen uns vertraut ist, weil wir uns auf sie einlassen; wenn wir ihnen zutrauen, dass sie auch Verantwortung tragen können – dann ist ihre Existenz unter uns allen keine Geldfrage mehr.
Übrigens, die Kollegin im Rollstuhl, mit der der Bote im Lift war, ist die Leiterin der Bildungseinrichtung für Persönliche Assistent*innen, diplomierte Lebens- und Sozialberaterin, hat eine Supervisionsausbildung absolviert und lebt in einer eigenen Wohnung mit Persönlicher Assistenz. Ich kenne sie als Frau, die „mitten im Leben“ steht, sich engagiert und andere ermutigt, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und eigenverantwortlicher zu werden. Sie wäre ohne Weiteres in der Lage, den erschrockenen Boten in einer seiner Lebenskrisen professionell zu beraten. Mir hat sie schon viel beigebracht.
// Günther Breitfuß ist ein der Philosophie zugeneigter Landvermesser, Sozialarbeiter, Bergsteiger, Supervisor und Manager. Er arbeitet seit 2001 als Geschäftsführer der Persönlichen Assistenz GmbH und betreibt eine Praxis als Supervisor und Coach.
Zuletzt geändert am 24.11.14, 00:00 Uhr
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