EDITORIAL #6
Warum?
Es bewegt sich zweifellos etwas auf unserem Globus. Gerade in jüngster Zeit sind wir mit einer Rasanz an Umgestaltungen konfrontiert, die selbst interessierte und geübte BeobachterInnen an die Grenzen ihrer Aufnahme-fähigkeit bringen. Denn vielem, dem wir uns derzeit gegenüber sehen, ist mit alten, bewährten Erklärungsmustern nicht mehr beizukommen. Wir müssen uns wohl von alten Dogmen lösen und neue Fähigkeiten erlernen.
Helfen kann dabei vielleicht ein Videospiel, das kürzlich der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. PeoplePower – The Game of Civil Resistance soll, so seine EntwicklerInnen, den Menschen helfen, die Komplexität politischer Kämpfe zu erkennen und auf alle notwendigen Schachzüge vorbereitet zu sein. Die Dokumentarfilmer Miriam Zimmermann und Steve York haben dieses Spiel gemeinsam mit dem International CEnT on Nonviolent Conflict entwickelt.
Bei PeoplePower muss man in die Rolle des Führers einer Volksbewegung schlüpfen und versuchen, öffentliche Verwaltung, Polizei, Armee und Medien in die eigene Hand zu bekommen. Die einzigen Waffen, auf die man dabei zurück greifen kann, sind das eigene strategische Geschick und der eigene Einfallsreichtum. Ziel ist es, die Bevölkerung zu organisieren, die Menschenrechte zu sichern und Diktatoren, Okkupanten und korrupte Regime zu stürzen. Sozusagen der Antipode aller Ego-Shooter-Spiele. Dieser derzeit nur in englischer Sprache verfügbare Revolutionssimulator wird noch heuer auf Arabisch, Spanisch, Farsi und Russisch herauskommen und kann zum Preis von 10 US-Dollar aus dem Netz heruntergeladen werden.
Wer in einem Mail glaubhaft versichern kann, dass sie/ er sich diesen Preis nicht leisten kann und das Spiel nicht zu Unterhaltungs-, sondern zu Lernzwecken einsetzen will, kann das Spiel auch kostenlos beziehen.
In unseren Breiten wird dieses Spiel wohl Spiel bleiben müssen, auch wenn sich manche romantische Seele (auch hier bei Radio FRO 105.0) nach radikalisierten Volksmassen sehnt. Hier gilt es in erster Linie nicht so sehr gegen offene Unterdrückung aufzustehen, sondern darum Machtstrukturen erst einmal erkennbar und beschreibbar zu machen. Wer steckt dahinter, wenn der Stadt Linz für einen 192 Millionen-Franken-Kredit, den sie 1992 aufgenommen hat, halbjährliche „Wettschulden“ in zwei- mitunter sogar dreistelliger Millionenhöhe entstehen?
Weshalb glauben EU und Weltbank, hoch verschuldete Länder wie Griechenland, Spanien, Portugal und Irland durch noch mehr Kredite zu noch höheren Zinssätzen sanieren zu können, obwohl genau diese Strategie eben gescheitert ist? Wem ist es anzulasten, dass täglich 37.000 Menschen verhungern (17.000 davon sind unter 10 Jahre alt)?
Es geht gar nicht darum, diese Krisen zu bewältigen,
sondern darum, sie zu nutzen, um soziale und arbeitsrechtliche Standards nach unten zu nivellieren und
sich extrem günstig öffentliches Eigentum anzueignen.
Die letzte Frage, wer Schuld daran ist, dass etwa alle 2,3 Sekunden ein Mensch verhungert, wollte der ehemalige UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Jean Ziegler, bei seiner Eröffnungsrede zu den Salzburger Festspielen beantworten. Allerdings wurde er von Landeshauptfrau Gabi Burgstaller wieder ausgeladen. Seine Rede hat er trotzdem veröffentlicht, und sein Befund fällt eindeutig aus: Es sei die Schuld „der Schönen und Reichen, der Großbankiers und der Konzern-Mogule“. Denn nach dem World-Food-Report der FAO (Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen), dem auch die oben zitierten Zahlen entstammen, könnte die Weltlandwirtschaft auch die doppelte Menge an Menschen ernähren. Es ist also eine reine Verteilungsfrage. Aber auch, wie Jean Ziegler meint, Symptom der von den Schönen und Reichen verursachten „kannibalistischen Weltordnung“ deren einzige Triebfeder die „entfesselte, sozial völlig unkontrollierte Profitmaximierung“ sei. Verschärft habe sich die Welthungersituation durch den Umstand, dass nach dem Platzen einiger Spekulationsblasen die Hedgefonds und Groß-Spekulanten auf Agrarrohstoffbörsen umgestiegen sind. Die verstärkte Spekulationstätigkeit führte zu einer Verdoppelung der Grundnahrungspreise innerhalb eines Jahres. Preise, die in den armen Ländern nicht mehr bezahlt werden können.
Ziegler, der sicher kein Radikaler, sondern ein braver Schweizer Bürger ist, sieht aber in seiner nicht gehaltenen Rede noch einen Hoffnungsschimmer, nämlich „im Kampf der Völker der südlichen Hemisphäre, von Ägypten und Syrien bis Bolivien, und im geduldigen, mühsamen Aufbau der Radikal-Opposition in den westlichen Herrschaftsländern.“
Wie oben schon vermutet, liegt unser Part wohl „im geduldigen, mühsamen Aufbau der Radikal-Opposition“. Daher gleich zur zweiten Frage: Weshalb meinen EU und Weltbank die (nicht zuletzt durch ihre Bankenrettungsaktionen) hoch verschuldeten Länder der Eurozone mit noch mehr Krediten zu noch schlechteren Bedingungen retten zu können? Nun, selbst auf die Gefahr hin, Sie zu enttäuschen – ich habe keinen blassen Schimmer. Hier reicht meine Empathie, mein Einfühlungsvermögen, leider nicht aus. Bin ich doch selbst der pragmatischen Meinung, dass diese Schulden als uneinbringlich abgeschrieben, der Finanzsektor reguliert und die Banken verstaatlicht werden sollten.
Wettgeschäfte und ökonomische Analphabeten
Aber wir können, wenn wir die Politik von EU und Weltbank schon nicht nachvollziehen können, doch eine Frage aufwerfen, die Cicero bereits vor unserer Zeitrechnung (wenn auch nicht im Zusammenhang mit EU und Weltbank) aufgeworfen hat. Cui bono – Wem nützt es? Und da rücken plötzlich Aspekte in den Fokus, die gemeinhin nur als Begleiterscheinung der gewährten Kredite vermittelt wurden: Die restriktiven Sparmaßnahmen und weitreichenden Privatisierungsauflagen der Geldgeber. In Portugal stehen die Privatisierung von Post und Wasserversorgung bevor, ebenso massive Einschnitte bei der Altersversorgung, im Gesundheits- und Bildungswesen sowie Kürzungen bei den Arbeitslosenbezügen und den Mindestlöhnen für Berufseinsteiger. In Griechenland werden neun von zehn Stellen, die durch Pensionierungen im öffentlichen Dienst frei werden, nicht mehr nachbesetzt.
Nimmt man diese „Begleiterscheinungen“ in den Blick, so kann man den Eindruck gewinnen, dass es gar nicht darum geht, diese Krisen zu bewältigen, sondern darum sie zu nutzen, soziale und arbeitsrechtliche Standards nach unten zu nivellieren und sich extrem günstig öffentliches Eigentum anzueignen. Denn es gibt nicht nur zu wenig Geld in den Staatskassen, sondern auch viel zu viel in Kassen der „Superreichen“, die natürlich danach trachten, dieses Geld in echte Werte zu verwandeln. Der Wirtschaftsprofessor und Kolumnist der New York Times, Paul Krugman, sieht das wohl ähnlich, wenn er in seiner Kolumne vom 10. Juni 2011 schreibt: „Die politischen Entscheidungsträger bedienen – ob bewußt oder unbewußt – fast ausschließlich die Interessen der Kapitalbesitzer, die aus ihrem Vermögenswerten gewaltige Einkommen beziehen. Und die in der Vergangenheit – häufig unbesonnen – viel Geld verliehen haben, jetzt aber zulasten aller anderen vor Verlusten geschützt werden.“ Krugman weist hier auch darauf hin, welchen Zweck die neuerlichen Kredite für die in Zahlungsnot geratenen Länder vor allem haben: Diese Länder sollen weiterhin ihre Schuldendienste leisten!
Weshalb die Politik so handelt, wie sie handelt, wissen Sie jetzt immer noch nicht, aber es gibt schon eine Ahnung, in wessen Interesse hier agiert wird. Die gerade in den letzten Wochen geführte Diskussion um eine Europäische Wirtschaftsregierung (vor allem von Deutschland und Frankreich betrieben) verstärkt diesen Eindruck noch.
Bleibt noch die Frage, weshalb sich die Stadt Linz auf ein Wettgeschäft auf den Franken-Kurs eingelassen hat. Mit dieser Frage beschäftigen sich mittlerweile das Kontrollamt der Stadt, ein Untersuchungsausschuss, sieben Universitätsprofessoren, der Bundesrechnungshof, die Staatsanwaltschaft und die oberösterreichische Öffentlichkeit. Es würde also an ein Wunder grenzen, wenn ausgerechnet ich die Antwort aus dem Ärmel schütteln könnte. Zumal von denen die es wissen könnten, auf Grund laufender Verfahren kaum etwas herauszubekommen ist. Bis zum Abschluss dieser Verfahren müssen wir uns wohl mit der Einsicht begnügen, dass die oft ins Abstruse gehenden Erfindungen der Finanzjongleure so undurchsichtig und komplex sind, dass selbst erfahrene Fachleute wie ökonomische Analphabeten wirken.
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Andi Wahl ist Geschäftführer von Radio FRO.
Zuletzt geändert am 25.01.12, 00:00 Uhr
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