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Hamburger Abendblatt, 4. 4. 2000

Hat Rudolf Scharping die deutsche Bevölkerung belogen, als er ihr kurz nach Beginn des Kosovo-Krieges den so genannten Hufeisenplan präsentierte?

Ein Oberst war Scharpings Schmied

Von FRANZ-JOSEF HUTSCH

Der Minister schaltet auf stur. Wann immer die Frage auf den so genannten Hufeisenplan kommt - und nicht jeder darf ihn danach fragen - glaubt Rudolf Scharping, sein Gegenüber mit pauschalen Unverbindlichkeiten beruhigen zu können. Wie am vergangenen Sonntag. Als er in der ZDF-Sendung "Eser und Gäste" nach der Existenz jenes Planes befragt wurde, mit dem der jugoslawische Präsident Slobodan Milosevic und seine Generale die Vertreibung und Verfolgung der Albaner im Kosovo geplant, organisiert und befohlen haben sollen. "Ja natürlich, es gibt ihn", antwortet Scharping, als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt. Als würde diese Antwort ausreichen, um die Zweifler verstummen zu lassen.
Wenn konkrete Fragen zu beantworten sind, kneift der Minister. "Es besteht kein Gesprächsbedarf", lässt er durch seinen Sprecher verkünden. Dabei werden Zweifel an der Glaubwürdigkeit von Scharpings Aussagen inzwischen vor allem aus seinem eigenen Ministerium genährt. Drei Offiziere erinnern sich an Gespräche, die sie im Herbst vergangenen Jahres mit Oberst Karl Gunter von Kajdacsy, Referatsleiter des Führungsstabes der Streitkräfte, geführt haben. Dabei hat ihnen der Oberst im Generalstabsdienst erzählt, er habe den Titel "Hufeisen" für die Analyse erfunden, die Scharping kurz zuvor aus dem Außenministerium auf die Bonner Hardthöhe geschleppt hatte. "Für mich war das Scharpings Schmied", sagt einer der Offiziere.
Die Papiere, die Scharping seinen Mitarbeitern Anfang April 1999 übergeben hat, seien keinesfalls "ein serbischer Operationsplan mit dem Decknamen Hufeisen gewesen". Auch habe das Material keine Beweise dafür enthalten, fährt ein Kenner des Materials fort, dass bereits im Herbst 1998 in Belgrad ein Plan verfasst worden sei, der die Vertreibung der Albaner zum Ziel gehabt habe. Weil einfach zu viel zu vage war, haben Scharpings Nachrichtenoffiziere nie behauptet, einen serbischen Operationsplan mit Namen Hufeisen in den Händen zu halten. Das tat nur Rudolf Scharping. Auch die NATO griff nicht zu, als ihr der Bonner Hufeisenplan in Brüssel zugestellt wurde. "Das ist nie in unsere Bewertung der jugoslawischen Seite einbezogen worden", weiß ein General. Denn bereits Ende Januar, Anfang Februar hatten Bulgaren und Slowenen den NATO-Nachrichtenoffizieren Informationen angeboten, die sich mit der geplanten ethnischen Säuberung im Kosovo befassten. "Dubioses Material", erinnert sich der General. Zudem konnte oder wollte keine andere NATO-Nation Scharpings Hufeisenplan bestätigen. Das ist verwunderlich. Denn der frühere österreichische Außenminister Wolfgang Schüssel hat nach eigenen Angaben seinen EU-Amtskollegen geheimdienstliche Informationen über die Vertreibung der Albaner aus dem Kosovo zur Verfügung gestellt. Von den 15 Staaten der Europäischen Union sind immerhin elf Mitglieder der NATO.
"Eine unvorstellbare Arroganz" hat die frühere Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) in Scharpings Antworten im Zusammenhang mit dem angeblichen Hufeisenplan ausgemacht. Die Bundestagsabgeordnete wirft dem Minister vor, "nur Worthülsen zu produzieren, anstatt konkret zu antworten". Sie hat den Eindruck gewonnen, dass "mit aller Macht eine Debatte über den Plan verhindert werden soll". Zu einer Diskussion wird es allerdings nun doch kommen. Die Liberale hat die Bundesregierung aufgefordert, sich zu den Vorwürfen rund um den Hufeisenplan zu äußern. Schützenhilfe erhält sie vom verteidigungspolitischen Sprecher der CDU, Paul Breuer. Der will morgen im Verteidigungsausschuss die "Diskrepanzen um den Hufeisenplan" aufgeklärt haben. "Scharping hat gesagt, er wolle vom Parlament gefragt werden, damit fang ich jetzt an", sagt Breuer.
Auch in der SPD mehren sich die Stimmen, die "jetzt einfach eine Antwort" vom Genossen Scharping haben wollen. Der habe im vergangenen Jahr, sagen etliche Abgeordnete, viele Parlamentarier durch seine stark emotionale Art der Diskussion irritiert. "Waren die Vergleiche mit Konzentrationslagern wirklich notwendig, um diesen Krieg zu rechtfertigen?", fragen sie. Seit das Hamburger Abendblatt am 21. März erstmals die Zweifel am Hufeisenplan zusammengetragen hatte, verstrickt sich der Verteidigungsminister in immer neue Widersprüche. Am 22. März behauptet er in einem Interview mit der "Berliner Morgenpost", der "Hufeisenplan liegt dem Den Haager UNO-Tribunal vor und ist eine Grundlage für dessen Anklageschrift gegen Milosevic und seine Clique".
Dabei hat bereits im Mai 1999 die frühere Chefanklägerin des Tribunals, Louise Arbour, bei dem Material zur Operation Hufeisen Zweifel an der Aussagekraft geäußert. "Wäre das Dokument mit Deckblatt, Unterschrift und Datum, so wäre es phantastisch. Aber meist sieht so etwas eher nach Gesprächswiedergaben und Schlussfolgerungen aus. Das Beweisstück, das alles aufklärt, ist nicht dabei." Ein Sprecher des Tribunals bekräftigt gegenüber dem Abendblatt die Gültigkeit dieser Aussage. Frau Arbour und Herr Scharping schätzten offensichtlich das Material unterschiedlich ein, sagt er. Auch in der Anklageschrift gegen Milosevic taucht der Begriff Hufeisen kein einziges Mal auf. Die Massaker, deren der Serbenführer angeklagt wird, wurden mit einer Ausnahme alle nach dem Beginn der Luftangriffe am 24. März vergangenen Jahres verübt. Zu diesem Zeitpunkt dauerte die systematische Vertreibung im Kosovo nach Scharpings Angaben allerdings schon seit mehr als zwei Monaten an.
Am Wochenende beteuerte der Verteidigungsminister in der "Welt am Sonntag", er habe zum Hufeisenplan "entsprechende Unterlagen vom Auswärtigen Amt erhalten, danach ausgewertet und mit eigenen Erkenntnissen verglichen". Hier offenbart sich nun ein eklatanter Widerspruch. Denn gerade die unmittelbar vor dem Beginn der Luftangriffe im Außen- und Verteidigungsministerium erstellten Lageberichte, die dem Abendblatt vorliegen, gehen lediglich von "lokal und zeitlich begrenzten" Operationen der serbischen Sicherheitskräfte im Kosovo aus. Diese seien aufgrund fehlender Infantrie zu diesem Zeitpunkt nicht in der Lage, "kosovoweit" zu operieren.
Die massenhafte Vertreibung der Kosovo-Albaner, die zu Hunderttausenden über die Grenze kamen, erfolgte erst nach Einsatz der NATO-Bomben.