Heu, Schnee und Ende
Kinder sprechen Texte von Ilse Aichinger und Helga Michie
Kinder?
Ilse Aichinger und Helga Michie?
Vor der Kindertheater-Premiere einer Wiener Bühne beklagte der Regisseur, wie er als Theatermacher für Kinder von der für die Erwachsenen produzierenden Kollegenschaft „schräg“ angesehen werde.
Eine Zeitung beschrieb später eine „kindgerechte“ Aufführung.
Welches Stück Glas nähme es mit dem Winkel auf, der sich ergibt, wenn nicht Erwachsene für Kinder, sondern umgekehrt Kinder für Erwachsene spielen?
Vielleicht fände man es in der Hippolytusbuurt in Delft, wo vor mehr als dreihundert Jahren der Tuchhändler und Camerbewaarder Antoni van Leeuwenhoek nächtens an millimeterkleinen Glasflächen schliff und sie dann in seine Mikroskope steckte, die aussahen wie Messingriegel für Scheunentore oder Schmuckschatullen.
Wenn er seine Apparaturen in die Höhe hielt, wollte er damit nicht dem Glanz der Himmelskörper näher kommen wie viele seiner Zeitgenossen.
Sein Interesse galt dem Unsichtbaren, dem noch nicht sichtbar Gemachten.
Das Material seiner Betrachtung schöpfte er aus abgestandenem Wasser in Regentonnen, schabte es aus Pferdemist von der Straße oder kratzte es vom Belag seiner eigenen Zähne.
So spürte er uns die bis dahin verborgene irrlichternde Welt der kleinen und kleinsten Lebendigkeit auf, während vor den Okularen der Teleskope das Glitzern der Nacht in schroffem, kraterigem Gestein verschwand.
Wollen wir mit unserem in diesem Hörstück festgehaltenen Sprech-Versuch mit Texten von Ilse Aichinger und Helga Michie überhaupt jemand gerecht werden?
Vielleicht bloß dem kindlichen Wunsch, selbst die Dachkammern, Schiffsplanken und Mauerritzen, die Laubhaufen, Eisfelder und auch das Dunkel des Waldrands, diese Sprache mit leisem Zaudern in der Stimme zu erforschen.
Erwachsene gelangen „auf Augenhöhe“ – nicht nur mit Kindern – oft „von oben“. Es gelingt ihnen auch ohne Mühe, diese Höhe zu behaupten, um den wohlfeilen Preis einer Antwort.
Kinder springen.
In leichteren Sätzen ähnlich weit wie in solchen, die uns Alten schwer und oft zu schwer erscheinen.
Sie ahnen, wie knapp – dort, am Scheitel – die Spanne für Fragen sein wird.
Über Wolfgang Borchert schrieb Ilse Aichinger einmal:
Die Antworten, die Wolfgang Borchert sich und den andern gab, waren wie Fragen, aber die Fragen waren manchmal wie Antworten, und daraus rührte der Trost.
Möglicherweise ging es uns um die Erkundung dieses flüchtigen Punktes, an dem die Sprungkraft eines Kindes die Schwerkraft der Welt gerade noch aushält, jenes Moments, an dem selbst Erwachsenen noch das Staunen aufblitzen kann, bevor sie, wie unsere Robin im Lidschlag einer Frage, in Helga Michie´s Redeemer entdecken:
And Easter had just gone.
Wien, Jänner 2022
(mischa, Ensemble KITZ)
Die Sendung erfolgte mit freundlicher Genehmigung der Edition Korrespondenzen, Wien und des S. Fischer Verlags, Frankfurt.
Redaktion: Ensemble KITZ
Website: https://lostkitz.at/P2021/hse_intro.html
Ensemble KITZ 2021
Maus: Julia Gillay, Fanny Tiefenbacher
Zwerge: Raphael Karlick, Kolja Lucyshyn
Stimmen: Hannah Baum, Jana Piringer, Nikolina Zahner
Studentin: Katharina Burghart
Kind: Robin Klima
Special Guest: Sandra Wollner
Cameo: Thomas Stipsits
Zuletzt geändert am 01.02.22, 17:43 Uhr
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