Solidarisch durch die Krise
von Lisa Mittendrein //
Politisch, ökonomisch und gesellschaftlich ist in Griechenland in den letzten Jahren kein Stein auf dem anderen geblieben. Das Land hat seit 2008 mehr als ein Viertel seiner Wirtschaftsleistung verloren.
25 Prozent der Bevölkerung sind arbeitslos, bei jungen Menschen ist es mehr als die Hälfte.
Hunderttausende haben in den letzten Jahren das Land verlassen. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung lebt in Armut oder ist von Armut bedroht. Hunderttausende Familien leben ohne Heizung, Strom und oft auch ohne ausreichend Essen. All das kam nicht überraschend. Die Zerschlagung der Arbeitsrechte, der Angriff auf den Sozialstaat, die Senkung der Löhne und die Entrechtung weiter Teile der Bevölkerung waren das explizite Ziel der Troika-Programme, die die griechischen Regierungen gefügig umsetzten. Unter dem Vorwand der Budgetsanierung sollte aus Griechenland ein neoliberales Experimentierfeld werden: Ein neuer Typ Staat, der noch besser die Interessen der Eliten vertritt und ein neues Wirtschaftsmodell, das auf gesteigerter Ausbeutung basiert.
Doch die griechische Bevölkerung leistet seit 2010 Widerstand. Im Frühsommer 2011 verdichteten sich Streiks, Demonstrationen, Arbeitskämpfe und lokale Proteste in den Platzbesetzungen. Syntagma, der zentrale Platz vor dem Parlament in Athen, wurde zum Symbol des Widerstands gegen die Krisenpolitik. Die Bewegung erreichte ganz Griechenland, es gab Besetzungen in dutzenden Städten und hunderttausende Menschen, die zuvor noch nie demonstriert hatten, gingen gegen die herrschende Politik auf die Straße.
Ausgehend von den Platzbesetzungen und den verschiedenen Protestbewegungen entfaltete sich eine enorme politische Dynamik. Die Menschen gingen von den Plätzen in die Nachbarschaften. Innerhalb weniger Jahre entstanden tausende selbstverwaltete Projekteund Solidaritätsinitiativen. Sie arbeiten daran, gemeinsam die Krise zu bewältigen und von unten etwas Neues aufzubauen.
Individuelle Not politisieren
Die Initiativen sind vielfältig. Nachdem das öffentliche Gesundheitssystem in der Krise teilweise zusammengebrochen war, entstanden dutzende Solidaritätskliniken und -apotheken. Da über ein Drittel der Bevölkerung nicht mehr versichert ist und die Sozialversicherung den Spitälern und Apotheken Leistungen nur noch teilweise ersetzt, haben viele Menschen keinen Zugang mehr zu notwendigen medizinischen Leistungen. In den Solidaritätskliniken arbeiten die MitarbeiterInnen, PflegerInnen und ÄrztInnen oft ehrenamtlich, die Arbeit wird durch Spenden finanziert und zum Teil durch internationale Solidaritätskampagnen unterstützt. Auch andere Initiativen versuchen, über direkte Hilfe die unmittelbare Not zu lindern. Projekte wie soziale Küchen oder die Verteilung von Essensspenden sind jedoch oft mehr als klassische Wohltätigkeit. Sie funktionieren nach dem grundlegenden Prinzip der Solidarität: dem gemeinsamen Handeln auf Basis des Bewusstseins, auf derselben Seite zu stehen. Viele der Initiativen verteilen nicht nur Lebensmittel, sondern bieten auch Raum zur Selbstorganisation, zum Austausch und zur gegenseitigen Beratung. Auf diese Weise wirken sie der Vereinsamung in der Armut entgegen. Die persönliche, individuelle Not wird politisch.
Ebenfalls mit Lebensmitteln arbeiten Gemeinschaftsgärten und urbane Landwirtschaft. Sie versorgen ihre Mitglieder oder zugehörige soziale Zentren, in ihnen wird aber auch landwirtschaftliches Arbeiten erlernt. Initiativen wie „Märkte ohne Mittelsmann“ wickeln den Verkauf von Lebensmitteln direkt zwischen BäuerInnen und KonsumentInnen ab und umgehen so den teuren Einzelhandel. Tauschkreise und Zeitbanken setzen Menschen direkt in wirtschaftliche Beziehung zueinander und hinterfragen, wie Wert durch Preise ausgedrückt wird. Schenkläden, -märkte und -plattformen vermitteln die kostenlose Weitergabe von Dingen. Wer überflüssige Kleidung, Geräte, oder Ähnliches hat, verschenkt sie – wer diese Dinge braucht, holt sie sich ohne Gegenleistung ab.
Auch selbstverwaltete soziale Zentren, sogenannte Stekia, sind Zeichen praktischer Solidarität und erproben ein neues Miteinander. Stekia werden meist besetzt oder günstig gemietet und kollektiv als Nachbarschaftszentrum geführt. Die Vielfalt der dortigen Aktivitäten ist riesig und reicht vom Café und Unterhaltungsprogramm bis hin zu Kinderbetreuung, Sprachkursen oder anderen Freizeitaktivitäten.
Von besonderer Bedeutung sind außerdem die zahlreichen Kooperativen und selbstverwalteten Betriebe. Das europaweit bekannteste Beispiel ist die Fabrik Vio.Me, die von den ArbeiterInnen übernommen wurde und wo heute ökologische Reinigungsmittel produziert werden. Daneben existieren unzählige landwirtschaftliche Kooperativen sowie kollektiv geführte Läden und Lokale, die alle mit der Logik des konventionellen UnternehmerInnentums brechen.
„Es sollte uns nicht geben …“
Die Solidaritätsinitiativen versuchen die Folgen der Krise zu lindern, verstehen sich aber auch als politische AkteurInnen. Spricht man mit AktivistInnen, so hört man oft: „Eigentlich sollte es uns gar nicht geben.“ Denn die Versorgung der Menschen mit den notwendigsten Gütern und Leistungen sollte gesellschaftliche Verantwortung sein. Die Initiativen tun, was sie müssen, weil der Staat versagt, aber ihre politischen Ziele gehen weit darüber hinaus. Somit wirken die Initiativen nicht nur direkt über Hilfe und Selbsthilfe, sondern schaffen auch Aufmerksamkeit für gesellschaftliche Probleme. Die Solidaritätskliniken stellen nicht nur Krankenversorgung bereit, sondern kämpfen auch für ein anderes Gesundheitssystem. Sie kritisieren die Kürzungen und die neoliberale Umgestaltung der sozialen Sicherungssysteme. Aber sie wollen auch nicht bloß zurück zum traditionellen, oft paternalistischen Wohlfahrtsstaat. Sie zeigen, dass es auch anders gehen kann: Emanzipatorischer und demokratischer für MitarbeiterInnen, PatientInnen und Angehörige. Ähnliches gilt für Initiativen in anderen Bereichen. Viele Gemeinschaftsgärten und landwirtschaftliche Kooperativen wollen nicht nur Selbstversorgung betreiben, sondern aktiv an der Veränderung der Nahrungsmittelproduktion mitwirken.
Die selbstverwalteten Betriebe rütteln an den ideologischen Grundfesten des Kapitalismus, wenn sie Eigentum kollektivieren und die Geschäftsführung demokratisieren. Und die sozialen Zentren weisen auf die Notwendigkeit nicht-kommerzieller Räume und kollektiver Organisation und Unterstützung hin. Sie zeigen, wie gemeinsames Gestalten in der Nachbarschaft möglich ist. Die solidarischen Projekte bilden heute in Griechenland eine Infrastruktur der Alternativen. Sie helfen den Menschen, die Krise zu bewältigen – und zwar nicht alleine, sondern in Form kollektiver Selbsthilfe. Für viele Beteiligte bedeuten die Initiativen Selbstermächtigung, Emanzipation sowie die Aneignung von Wissen und Raum. Durch ihre Verankerung in den Nachbarschaften eröffnen sie weit über ihre eigenen Mitglieder hinaus Perspektiven einer anderen Gesellschaft. Sie schaffen neue Formen der Gemeinschaft, die gerade in der Krise Zugehörigkeit und Rückhalt bieten. Durch ihre Arbeit machen die Solidaritätsinitiativen deutlich, dass Arbeitslosigkeit, Armut und Not nicht die Folge individuellen Scheiterns sind, sondern gesellschaftliche Probleme. Und ihre Erfahrungen können uns auf der Suche nach neuen Formen der sozialen Sicherheit voranbringen.
//Lisa Mittendrein arbeitet bei Attac Österreich als Referentin für Finanzmärkte,
Eurokrise und Steuern.
Der Beitrag erschien zuerst in der Broschüre “Solidarisch und selbstbestimmt”,
herausgegeben von der Grünen Bildungswerkstatt. Wir danken sehr herzlich für die Genehmigung zum Wiederabdruck.
Zuletzt geändert am 08.07.16, 00:00 Uhr
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