Süße Sucht

von Florian Sedmak ///

Houston, wir haben ein Drogenproblem. Wer wir ist? Ganz einfach. Wir, das sind wir alle. Nein, eigentlich haben wir kein Drogenproblem. Denn bei der Droge handelt es sich um Musik, und für Abhängige wird die Sucht bekanntlich erst dann zum Problem, wenn der Nachschub ins Stocken geraten ist.

Von diesem größten anzunehmenden Unfall im Leben eines Junkies sind wir aber so weit entfernt wie die Bravo Hits (aktuell: Volume 75) von einem Kloster des Ordens der Zisterzienser der strengeren Observanz. Die sind den Kirchenfernen unter uns als Trappisten – und somit als Synonym für ausufernde Schweigsamkeit – geläufig. Die dröhnende Stille eines solchen Klosters mann- oder frauhaft zu ertragen, ist für KonsumentInnen von Klangwaren wie eben der Volume 75 der Bravo Hits unvorstellbar. So unvorstellbar wie andersrum das Abspielen des Titels „Wenn Worte meine Sprache wären“ von Tim Bendzko (Track 17 auf CD 1 der Bravo Hits #75) beim frühmorgendlichen Stundengebet in der Klosterkirche.

Allein der Gedanke an solche akustische Askese verursacht dem Junkie Pein. Schnell wendet er sich zur Beruhigung der normalen Welt zu, in der solche Ausnahmezustände nicht vorkommen. Er weiß, sie weiß: hier herrscht absolute Unterhaltungssicherheit, auf die Verlass ist. Sound is everywhere! Mit einem versierten Köpfler taucht er/sie in die Schallwellen. So elegant, dass es nicht mal spritzt, wenn der DrogenkonsumentInnenkörper im Sound verschwindet.
Und schon strömt die Musik wieder sanft oder dynamisch-vital durch die Gehörgänge wie ein Opiat im Blutkreislauf, flutet das Hirn und weitet das Herz in der Brust. Nun ist wieder alles so wie damals in Mutti drin: das Aufgehobensein in einer warmen Blase. Der starke Beat von Muttis Herzschlag. Das spacige Rauschen und Blubbern aus den Arterien und den umliegenden Organen: Sound is all around! Und dazu die köstliche Sorglosigkeit, wie ein Fernseher über Kabel mit allem versorgt zu sein: Mutti, die Nabelschnur und ich.

Das grassierende Drogenproblem hat seinen Ursprung in der Vertreibung aus diesem Paradies: Blasensprung, das Warmwasser läuft ab, es wird eng und schmerzhaft, dann unangenehm hell und über das Kabel kommt plötzlich nichts mehr. Als wäre da alles noch nicht schlimm genug, kappt zu guter Letzt auch noch irgend so ein Idiot namens Papa oder Oberarzt so-und-so die Verbindung.

Zu wenig Bässe, zu wenig Volumen, und alles nur live

Tausende Jahre lang hat die Menschheit nur wenige Möglichkeiten zur Therapie dieses Traumas gehabt. Singen, Klanghölzer schwirren lassen, auf Flöten und Didgeridoos blasen, ein wenig trommeln und später dann auf armseligen Saiteninstrumenten herumzupfen – das war‘s auch schon. Auch wenn diese Instrumente heute quasi als Naturdrogen wieder durchaus ihren Reiz und Stellenwert haben wie Cannabis aus organisch-dynamischem Anbau: Klingt ein mit dünner Tierhaut bespanntes Tamburin gegen eine fett pumpende Bassdrum nicht beschämend kümmerlich? Eben.
Und so muss auch unseren Vorfahren insgeheim klar gewesen sein: Bio ist nett, aber es reicht nicht. Zu wenig Bässe, zu wenig Volumen, und alles nur live. Wir brauchen mehr. Richtig viel mehr: Lautstärke, Bandbreite, Speichermedien. Als Nachkommen können wir uns freuen, dass Not so erfinderisch macht. Die Altvorderen haben sich nach der Decke gestreckt. Haben ein Instrument ums andere erfunden, die immer schön lauter und lauter geworden sind. Orgel sticht Flöte, Hammerklavier sticht Cembalo, Orchester sticht Stubenmusik… die Richtung stimmt. Und dann ist endlich das goldene Zeitalter angebrochen: Elektrizität, Grammophon, Schellack, Vinyl, Verstärker, Stromgitarren und -bässe, E-Pianos und Synthesizer, Digitalisierung – den Rest kennen wir ja.

Als der erste Walkman auf den Markt kam, haben wir die Kopfhörer aufgesetzt und mit einem Endorphinschub wie bei der ersten Rippe Schokolade unseres Lebens glückselig ausgerufen: Mutti, wir kommen! (Für die Glücklichen, denen der Walkman biografisch erspart geblieben ist: es handelt sich um einen mit dem mittlerweile ebenfalls antiquarisch gewordenen Medium Audiokassette bespielten Vorläufer des gegenwärtig populären iPods bzw. MP3-Players). Es ist aber noch besser gekommen: Nach dem Discman – einem Phänomen der 1990er (das aber irgendwie den Spirit der 1980er hatte) – haben wir jetzt endlich MP3-Player. Wie geil. Die Dinger sind klein, sexy, irre laut und wir haben sie einfach überall dabei. Das ist voll 24/7/365. Und so richtig geil ist, dass wir uns die Kopfhörer jetzt einführen können. Das ist die volle Dröhnung.

Mutti, wir sind wieder daheim! Und wenn Mutti zu uns spricht, dann sagt sie manchmal auf einer Radiofrequenz knapp neben 105.0: You‘re at home, baby. Wir führen uns die kleinen Liebeskugeln in den Gehörgang ein, und sagen glücklich: Connected! Verbundenheit, ja, das ist es. Connected sein, und wired. Wired wie die Menschen in der Filmtrilogie Matrix, die von einer unsichtbaren Macht einzeln in gebärmutterartigen Waben als Wärmespender gehalten werden. Über Leitungen werden die im Koma befindlichen Menschen mit Nährlösung versorgt und sediert. Die von einem Zentralcomputer gerechnete Matrix gaukelt ihnen als gigantische Animation die gewohnte Alltagsrealität vor.


Der Nachschub versiegt nie

So wie mit der Wirklichkeitskonstruktion Matrix werden wir mit Musik versorgt. Hey, aber wir entscheiden selbst, worauf und wie wir drauf sein wollen: Speed, Tranquilizer, Ecstasy, Haschisch, Gras oder was auch immer. Ob zum Arbeiten, Entspannen, Konzentrieren, Zerstreuen, Laufengehen, Sex haben, Aggressionen ausagieren – es gibt den richtigen Stoff für alle und für alles. Hilf der Polizei, prügel dich selbst, hieß es früher. Heute heißt: Hilf dem System, konditioniere dich selbst. Wie wir konsumieren, bleibt uns überlassen: 10 Sekunden hier reinhören, weiterklicken, 5 Sekunden von dort, nein, Scheiße, weiter … das ist Kokserhektik. Oder sich eine ganze Wagner-Oper reinziehen: das ist Wasserpfeife rauchen. Vinyl, Schellack, Konzerthaus: das ist die Designerdrogenabteilung mit dem teuren Stoff für die Freaks und BesserverdienerInnen. Für den Mittelstand gibt es CDs, und der Pöbel wird mit MP3s massenversorgt. Da fehlen die Dynamik, Höhen und Bässe aber das ist denen doch egal. Hauptsache breit.

Der Nachschub versiegt nie. Die Beschaffungskriminalität findet auf Filesharing-Plattformen statt und heißt Piraterie. Und wenn uns unterwegs einmal der Akku abstinkt, kommen wir sofort ins Methadonprogramm. Wir brauchen nur in einen Supermarkt, eine Bar oder auf irgendein Klo gehen – schon sind wir wenigstens provisorisch soundversorgt. Ist der Akku wieder voll, sind wir zurück im Paradies. Wired. Connected. Bei Mutti.

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Florian Sedmak ist Musiker (Kurort, Trailerpark Playboys, Konsortium Fernstraße), Texter, Autor et cetera. www.sdmk.at

Zuletzt geändert am 16.05.12, 00:00 Uhr

Verfasst von Silke Müller

Ein Duett aus Radiofeature-Produktion und Illustrationsausstellung hat mein Kommunikationsdesign und Medienstudium abgeschlossen. Seit dem beschäftige ich mich mit der großen, künstlerischen Radioform "Feature", mit Reportagen und Interviews mit KünstlerInnen und Kulturschaffenden.

Ich bin freischaftende Illustratorin für Plakate - zum Beispiel für Radio FRO - Zeitungen, Magazine, Bücher und Ausstellungen. Radiohören geht beim Zeichnen wunderbar.

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