Vom enthemmten Markt zur politischen Entmündigung

von Gerald Oberansmayr ///

Tragödie in vier Akten

1. Akt:    Jubel, 1990er Jahre
Noch schaut gar nichts nach Tragödie aus: Freier EU-Binnenmarkt – Freiheit des Waren- und Kapitalverkehrs; und schließlich auch noch: Währungsunion – keine Wechselkursschwankungen und Umtauschkosten mehr. Europa wächst zusammen, erzählen uns Politik und Medien.


2. Akt: Exportschlachten, 2000 bis 2008

Die Realität hält sich nicht an die Propaganda. Europa wächst nicht zusammen, sondern driftet auseinander. Denn mit Binnenmarkt und Währungsunion werden alle Dämme geschleift, die einer hemmungslosen Konkurrenz noch im Weg gestanden sind. Im Propagandataumel hat man vergessen zu erwähnen, dass Wechselkurse ein Puffer sind, der schwächere Länder davor schützen kann, vollkommen unter die Räder übermächtiger Konkurrenz zu kommen. Die deutsche Exportindustrie (und im Windschatten auch die österreichische) gewinnen überlegen die 10-jährige Exportschlacht seit Einführung der Währungsunion – nicht, weil ihre Produktivität rascher als die Griechenlands und anderer südeuropäischer Länder wächst, sondern weil „ihre“ Gewerkschaften Gewehr bei Fuß stehen und eine in der Nachkriegszeit einmalige Umverteilung von Arbeit zu Kapital akzeptieren. Die Lohnquote in Deutschland sinkt von 2000 bis 2007 um 7%, in Österreich um 5%, im Euro-Raum ohne Deutschland jedoch nur um rund 1%. Das Resultat: Deutschland wurde – zum Großteil auf Kosten der EU-„Partnerländer“ – Exportweltmeister mit einem Handelsbilanzüberschuss von 194 Mrd. im Jahr 2007. Die Leistungsbilanzen der Mittelmeer-Länder schmieren spiegelbildlich dazu ab. Während der deutsche Exportüberschuss auf 5% des BIP klettert, wächst z.B. der griechische Importüberhang auf bedrohliche 14% des BIP.


3. Akt: Vom Leistungsbilanzdefizit zur Schuldenkrise, 2008 bis 2010

Negative Leistungsbilanz heißt: Man importiert mehr Güter und Dienstleistungen, als man exportiert. Gegenfinanziert wird durch Verschuldung – großteils bei den Banken der Überschussländer. Ein solcher Verschuldungskreislauf kann nicht ewig gut gehen. Und es gibt viele solcher Verschuldungskreisläufe, in der EU, auf Weltebene – ausgelöst durch das, was die EU sogar im Primärrecht verankert: Freihandel und Liberalisierung der Kapitalmärkte. Das führt zu immer rascherer Umverteilung von unten nach oben, immer stärkere Ungleichgewichte zwischen Export- und Importüberschüssen, immer stärkerer Verschuldung. Die Folge: eine massive Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2008. Die vormals viel geschmähten Staaten „retten“ nun die Banken mit vielen Milliarden und verhindern den Totalabsturz der Konjunktur. Aus der Finanz- wird eine Budgetkrise der öffentlichen Haushalte, von der Defizitländer wie Griechenland ungleich stärker betroffen sind als die Überschussländer wie Deutschland oder Österreich. Da die EU-Staaten mit der Währungsunion zugleich die Verfügungsgewalt über die Geldpolitik an die Europäische Zentralbank abgetreten haben, ist die Verschuldung in Euro gleichbedeutend mit Verschuldung in einer fremden Währung. Das Instrument zinsenloser Notenbankkredite, das gerade in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit wirkungsvoll eingesetzt werden kann, um die Konjunktur ohne ausufernde Verschuldung zu stimulieren, ist durch die EU-Verträge ausdrücklich untersagt. Damit werden an den Finanzmärkten die Zinsen für Anleihen von Ländern wie Griechenland in astronomische Höhen getrieben. Dafür dürfen sich die GriechInnen als „FaulenzerInnen“ und „PleitegriechInnen“ verhöhnen lassen. Der Hass von Arbeitslosen und prekär Arbeitenden in Deutschland und Österreich wird auf die oft noch viel Ärmeren im Süden gelenkt, um von den wirklichen VerursacherInnen und ProfiteurInnen der Krise abzulenken.


4. Akt:Von der Schuldenkrise zum politschen Diktat, 2011 ff.

Show-down. Die politische und ökonomische Ernte wird eingefahren. Die EU schnürt „Rettungspakete“. Im Klartext heißt das:
· Den Banken werden die risikoreichen Wertpapiere, mit denen sie bereits gute Geschäfte betrieben haben, zu glänzenden Konditionen abgelöst. Die Haftung dafür übernehmen die SteuerzahlerInnen der EU-Staaten.

· Länder wie Griechenland, Portugal, Spanien, Italien werden ökonomisch und politisch enteignet: einerseits durch brutale Spar- und Privatisierungsprogramme (50 Milliarden Privatisierungspaket in Griechenland!), andererseits durch EU-Kommission, IWF und deutsche Regierung, die Länder wie Griechenland politisch „entmündigen“ (Süddeutsche Zeitung, 08.04.2011) und von nun an Politik und Geschäfte in Athen führen. Wer das Volk befragen will, hat sein politisches Schicksal schon besiegelt. EU-Kommissar Barroso hat bereits im Vorjahr GewerkschaftsvertreterInnen unmissverständlich damit gedroht, dass Spanien, Portugal und Griechenland „als Demokratien, wie wir sie kennen, verschwinden werden, wenn die Sparpakete nicht umgesetzt werden.“ (Daily Mail, 15.06.2010)

· Weil aber die Schulden in allen EU-Staaten im Zuge der Krise stark angestiegen sind, werden die demokratisch gewählten Parlamente aller EU-Staaten in ihrem letzten noch verbliebenen großen Entscheidungsbereich – der Budgetpolitik – weitgehend entmachtet. Dieser autoritäre EU-Putsch trägt harmlose Namen: „Europäisches Semester“, „EU-Six-Pack“ und „Euro-Plus-Pakt“. Das deutsche Modell der Exportweltmeisterschaft, Niedriglohnpolitik und „Schuldenbremse“ soll damit allen EU-Staaten aufgezwungen werden. Jeder weiß, dass das nicht funktioniert. Wer wird als Nächstes von Brüssel und Berlin entmündigt?

Epilog
Viele rufen derzeit die EU als „Schutz“ gegen die Finanzmärkte an. Das heißt den Bock zum Gärtner zu machen. Denn die Deregulierung und Liberalisierung der Güter- und Finanzmärkte ist in Europa vor allem das Ergebnis einer gezielten Politik der EU-Machteliten, die durch EU-Verträge in Stein gemeißelt wurde. Dadurch ist ein Teufelskreis in Gang gesetzt worden: Niederkonkurrieren auf den Gütermärkten – Verschuldung/Überschuldung auf den Finanzmärkten – politische Unterwerfung. Die deutsche Regierung diktiert im Verbund mit EU-Kommission und IWF den EU-Staaten immer unverschämter neoliberale Rosskuren. EU und Finanzmärkte liefern sich kein Match gegeneinander, sondern im Doppelpass werden Sozialstaat und Demokratie an die Wand gespielt. Höchste Zeit, dieses Spielfeld zu verlassen.

 

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Gerald Oberansmayr arbeitet als Erwachsenenbildner, Aktivist der Solidarwerkstatt und Redakteur des Werkstatt-Blatts „guernica“. Er ist Autor des Buches „Auf dem Weg zur Supermacht – Die Militarisierung der Europäischen Union“(Promedia-Verlag).

Zuletzt geändert am 16.05.12, 00:00 Uhr

Verfasst von Silke Müller

Ein Duett aus Radiofeature-Produktion und Illustrationsausstellung hat mein Kommunikationsdesign und Medienstudium abgeschlossen. Seit dem beschäftige ich mich mit der großen, künstlerischen Radioform "Feature", mit Reportagen und Interviews mit KünstlerInnen und Kulturschaffenden.

Ich bin freischaftende Illustratorin für Plakate - zum Beispiel für Radio FRO - Zeitungen, Magazine, Bücher und Ausstellungen. Radiohören geht beim Zeichnen wunderbar.

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