Vom Extremismus der Mitte
von Martin Schenk //
Hetze und Menschenfeindlichkeit sind in Österreich kein Randphänomen mehr, sondern wurden längst von der gesellschaftlichen Mitte übernommen. Das ist die Beobachtung des Sozialexperten Martin Schenk. Über eine gefährliche Dynamik, die sich da ausgebreitet hat.
Die sozialen Probleme steigen, obwohl die Gesellschaft insgesamt immer reicher wird, besonders ganz oben. Schuld sind aber immer die da unten. Die Unterschichtler, die Mindestsicherungsbezieherinnen und die Asylanten. Das ist eine Methode, um die Verteilungs- und Gerechtigkeitsdebatte nur ganz unten zu führen. Die zehn Prozent der Bevölkerung mit den geringsten Einkommen und Chancen dürfen einander die Augen auskratzen. Wie in einem römischen Stadion werden sie aufeinander losgelassen. Der Rest darf zuschauen und sich ein bisschen fürchten oder daran erfreuen, nicht zu denen zu gehören.
Alles bedauerlich, aber normal
In Griechenland ist ein großer Teil der Bevölkerung nicht mehr krankenversichert, die Säuglingssterblichkeit ist massiv gestiegen, die Selbsttötungen nehmen zu. Alles bedauerlich, aber normal, sagt die wirtschaftliche und politische Mitte in Europa.
In der Steiermark hat die Landesregierung mit drastischen Kürzungen die Lebensrealität von Menschen mit Behinderungen und Kindern verschlechtert. Dafür wurde sie von der journalistischen Mitte als „Reformpartner“ bezeichnet. Alles kein Problem. Gleichzeitig wird wegen Kriegsflüchtlingen aus Syrien der Staatsnotstand ausgerufen, in der Steiermark Topthema der Landtagswahl. Bei 1,2 Millionen Einwohner*innen leben 4000 Flüchtlinge, das sind 0,4% der Bevölkerung.
Hilfsorganisationen und karitative Einrichtungen, die humanitäre Hilfe anbieten, gelten mittlerweile als „extrem“ bzw. „radikal“. Das ist noch vor einigen Jahren unter bravem und gutbürgerlichem Engagement gelaufen. Da sieht man, wie sich die Mitte verschoben hat. Die FPÖ kommt in der Mitte an und versenkt vier Milliarden Euro in der Hypo, das sind 4,4 % des Bruttoinlandsprodukts, findet aber, dass Mindestsicherungsbezieher, Flüchtlinge und Bettlerinnen das Problem Nummer eins des Landes seien. Hassprediger*innen allerorts: Minderheitenfeindlich, menschenrechtsfeindlich, frauenfeindlich, europafeindlich. In Viktor Orbans Ungarn ist das Ganze noch um einen Tick stärker aufgedreht; da gibt es Gefängnisse für Obdachlose und Minderheiten werden auf der Straße gejagt. Auch alles normal. So beginnt es, um erst richtig anfangen zu können.
Verrohung der Mittelschicht
Ergebnisse der Werteforschung zeigen, dass die Vermutung, nur „Modernisierungsverlierer*innen“ würden dumpfe Ressentiments entwickeln, selbst nicht viel mehr als ein Vorurteil ist. Besonders anfällig für Ideologien des Ausschlusses sind vielmehr diejenigen, die sich mit den herrschenden Werten Geld, Karriere und Erfolg überidentifizieren, die das Leistungsprinzip zu ihrem obersten Leitstern erheben und die zwischenmenschliche Beziehungen auf ihr Funktionieren für das Eigeninteresse reduzieren. Diese ökonomistischen Einstellungen stehen im Zusammenhang mit der Abwertung von „Überflüssigen“ und „Nutzlosen“. Der Sozialwissenschafter Wilhelm Heitmeyer nennt als zentralen Satz dieser Ideologie: „Jeder schafft es, wenn er nur will.“ Die Personen sagen Ja zu den Aussagen: „Wer sich nicht selbst motivieren kann, ist selber schuld, wenn er scheitert“ und „Wer sich nicht verkaufen kann, ist selber schuld, wenn er scheitert.“
Dabei handelt es sich zunehmend um ein Elitenproblem. Die Abwertung von Langzeitarbeitslosen ist in Deutschland am stärksten bei den obersten Einkommensschichten gestiegen. 60,4% aller Deutschen sind der Meinung, dass man in Krisenzeiten nicht mehr mit Fairness durch andere rechnen könne. 56,7% glauben, dass Bemühungen um Gerechtigkeit in diesen Zeiten nicht mehr erfolgreich seien. Folgerichtig halten mehr als die Hälfte aller Besserverdiener*innen Langezeitarbeitslose für „willensschwach, an ihrer Lage selbst schuld und für die Gesellschaft nutzlos”. Heitmeyer spricht von „elitär motivierter Menschenfeindlichkeit“. Ein „eiskalter Jargon der Verachtung“ sei da entstanden, ein konsequent vorgetragener „Klassenkampf von oben“.
„Underclass“ – kein unschuldiger Begriff
Eine zentrale Kategorie ist in diesem Zusammenhang der Begriff der „Unterschicht“. Er hat in der aktuellen Diskussion einen neuen Schub erhalten. Zum einen ist das gut, weil es
klarstellt, dass es ein Oben und ein Unten gibt, Macht und Ohnmacht, mehr und weniger. In den achtziger und neunziger Jahren wollten uns ja viele glauben machen, dass es nur mehr Lebensstile gäbe und sich alle bloß dadurch unterscheiden, ob sie Volksmusik oder Underground hören, Lodenmantel oder Jackett tragen, Schweinsbraten oder bio essen. In Wirklichkeit hat das nie gestimmt, stets waren sozialer Status, Einkommen, Bildung oder berufliche Position entscheidend für Chancen und Möglichkeiten in der Gesellschaft. Somit stellt die Feststellung einer „Unterschicht“ gesellschaftliche Realitäten richtig.
Andererseits aber ist das kein unschuldiger Begriff, im Gegenteil, er hat eine lange Geschichte. Gunnar Myrdal sprach 1962 zum ersten Mal von einer „underclass“. Er sah die gekündigten Arbeiter*innen aussterbender Industrien in den USA, mit sinkendem Lebensstandard, an den sozialen Rand gedrängt. „Underclass“ war bei Myrdal eine soziologische Kategorie – ohne moralisierende Beiklänge, ohne rassistische Untertöne und ohne kulturelle Zuschreibungen. In den späten sechziger Jahren erfuhr der Begriff eine stigmatisierende Umdeutung. Er wurde zum einen von politischen und ökonomischen Eliten moralisch aufgeladen, um soziale Unterstützung für die untersten Einkommensschichten schlechtzureden und zu kürzen. Zum anderen griffen ihn Interessengruppen auf, um die Bürgerrechtsbewegung Martin Luther Kings, die immer stärker auch soziale Rechte einforderte, zu delegitimieren. Am Schluss blieb vom soziologischen Begriff der „underclass“ die Karikatur des „faulen Negers“ über. Sozialwissenschafter wie William Julius Wilson versuchten eine realistische Beschreibung von „underclass“ zu retten und sprachen von „ghetto poor“ oder „new urban poor“, also von den „Ghetto-Armen“ oder den „neuen städtischen Armen“, aber die Sache war längst gelaufen. Die Geschichte der Armuts- und Reichtumsdiskurse verläuft seit hundert Jahren in einem sich stets wiederholenden Prozess, bei dem die jeweilige Verlierer*innengruppe eines grundlegenden sozialen Wandels für ihre verschlechterte soziale Lage selbst verantwortlich gemacht, beschimpft und herabgewürdigt wird. In Deutschland tauchte die „Unterschicht“, nicht zufällig, in Vorbereitung der Hartz-Reformen wieder auf.
Eine praktische Ideologie
Ähnlich dem „faulen Neger“ in den USA betritt die Unterschicht in Deutschland mit dem „nutzlosen Türken“ des Ex-Bankers Thilo Sarrazin die öffentliche Bühne. Sarrazin veröffentlichte ein Buch, das großes Aufsehen erregte und in Fernsehen wie Zeitung heftig diskutiert wurde. Seine Ideen fallen aber nicht einfach vom Himmel, sie haben eine Geschichte: In Fauna und Flora herrsche ein permanenter „Kampf ums Dasein“, in dem sich nur die Lebenstüchtigsten durchsetzen können. Diese Thesen des Naturforschers Charles Darwin, der im 19. Jahrhundert in England seine Erkenntnisse zur Entwicklung des Lebens veröffentlichte, werden heute im Sozialdarwinismus gesellschaftstheoretisch angepasst. Auch die menschliche Gesellschaft sei eine Arena, in der dieser Kampf ums Dasein stattfände, auch hier gewännen nur die Tüchtigsten.
Soziale Ungleichheit, so die Botschaft des Sozialdarwinismus, habe nichts mit entstandenen Machtverhältnissen zu tun, sie dürfe auch nicht als Problem begriffen werden, sondern sei etwas ganz Natürliches. Arm und Reich seien nichts anderes als die gesellschaftliche Widerspiegelung der biologischen Ungleichheit von Menschen.
Eine praktische Ideologie für die, die wollen, dass alle Ungerechtigkeiten so bleiben, wie sie sind. Argumentiert wird dann mit schlechtem Charakter, kulturellem Verfall und Faulheit – natürlich der anderen. Leute in der Mindestsicherung seien faul, Arbeitslose wollen nichts arbeiten, Armutsbetroffene seien selber schuld.
Diese Debatte ist kulturversessen und verhältnisvergessen. Die einen verwandeln so Menschen in Objekte von Strafpolitik, in defizitäre Unterschichtsdeppen, die „nichts können“. Die anderen verwandeln aktive Personen in Objekte erobernder Fürsorge, in immerwährende Opfer, die „alles brauchen“. Niemals aber wird das sichtbar, was Menschen noch alles sind, was sie tun und was sie sein können. Wie Tanja beispielsweise handelt, als Person, als Frau, als Mensch, als Mutter, als Organisatorin, als Musikerin. Tanja kann man übrigens im Film „NervenBruchZusammen“ im Kino sehen. Eine Reportage in einem Wiener Übergangswohnheim für Frauen in sozialen Krisen. Da werden Schwache stark. Da werden Menschen, die guten Stoff für jeden Unterschichts-Sozialporno hergegeben hätten, als das geschildert, was sie noch alles sind: findig, klug, listig, duldsam, leidend, strategisch, sorgend und verantwortungsvoll.
Eine gespenstische Normalität hat sich ausgebreitet
Mit der Propaganda der letzten Jahre haben sich die Hemmschwellen in den Köpfen des Publikums wie im behördlichen Handeln immer mehr gesenkt. Wir haben es hier mit einem ausgewachsenen Extremismus der Mitte zu tun. Dass die Hetze weniger wird, wenn die politische Mitte die Ziele der Hetze übernimmt, ist nicht wirklich zu erwarten. Die Strategie, „Ausländerfeindlichkeit“ mittels Ausländerdiskriminierung zu bekämpfen, ist ähnlich genial, wie Antisemitismus mittels Judendiskriminierung Einhalt gebieten zu wollen. All die Ideologien der Ausgrenzung und des Sündenbocks wirken wie Drogen. Um dieselbe Wirkung wie vorher zu erzielen, muss die Dosis erhöht werden.
Das hat die politische Mitte noch nicht begriffen. Wenn sie die Inhalte der Hetze übernimmt, wird auf Seiten der Hetzer*innen stets die Dosis erhöht. Vom Ausländervolksbegehren der FPÖ aus 1993 wurden alle Punkte von der politischen Mitte ÖVP/SPÖ umgesetzt. Darauf hat die FPÖ einfach noch mehr und stärker diskriminierende Forderungen gestellt. Die Hetze zu bestätigen heißt sie anzufeuern. Diese Wechselwirkung war in den letzten zwei Jahrzehnten gut beobachtbar. Gefährlich ist nicht der völkische und sozial-hetzerische Rand, gefährlich ist sein Einbruch in die politisch-gesellschaftliche Mitte.
Martin Schenk ist Sozialexperte der Diakonie, Mitinitiator der Armutskonferenz, Psychologe, sucht den Hinter- wie Untergrund und liebt Musik.
Zuletzt geändert am 08.09.15, 00:00 Uhr
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